Klartext im November

Einsichten von Kathrin

Wo weißes Heidekraut wächst

Der November zaudert nicht lange. Schon am ersten Tag des Monats gibt er die Marschrichtung vor, in welchen atmosphärischen Stimmungen er zu schwingen gedenkt. Dichte Nebelfelder, Herbstwind, der durch kahle Äste fegt, Tage, an denen es gar nicht richtig hell werden mag. Dazu wartet er mit Feiertagen auf – Allerheiligen, Allerseelen und der Totensonntag. Nein, der November schmückt sich nicht mit Lebensfreude und jener Leichtigkeit des Seins, wie sie uns vom Sommer so vertraut war. Er schickt uns dorthin, wo Melancholie, Nachdenklichkeit und ja, auch Schmerz und Kummer wohnen.

 

 

Schon als Kind hatte ich die düstere Kraft des Novembers gespürt, der meine Eltern und Großeltern in jene Winkel ihrer Herzen drängte, in denen der Schmerz hauste. Den 1. November erwartete ich teils freudig, weil er in Bayern ein Feiertag und somit schulfrei war, aber zugleich fürchtete ich den Tag, demaskierte er doch unbarmherzig den Schmerz der Erwachsenen, um die, die sie in der Vergangenheit hatten gehen lassen müssen.

 

In meiner Kindheit besuchten wir an Allerheiligen nachmittags in der Heimatstadt meines Vaters das Grab seines Bruders, der unter tragischen Umständen ums Leben gekommen war – sein bester Freund hatte ihn, im Alter von nur zwanzig Jahren, versehentlich erschossen. Verkrümelte sich diese Tragödie sonst in eine stille Ecke, wo sie zwar allgegenwärtig, aber nie so präsent war, das nicht gelacht, gescherzt, gealbert werden konnte, preschte sie an Allerheiligen mit einer solchen Wucht hervor, dass kaum jemand sie zu beherrschen verstand.

 

Und sie blieb, die gesamte dunkle Jahreszeit über, spielte sich tüchtig auf an Heiligabend und dem Todestag des Bruders Anfang Januar. Noch heute höre ich das Schluchzen meiner Großmutter, wenn sie sich hinter die angelehnte Wohnzimmertür zurückzog, während wir alle vor dem Weihnachtsbaum standen und Stille Nacht im Chor sangen. Sie verkroch sich, damit niemand ihre Tränen sah, die sie jedes Jahr um den toten Sohn weinte. Seitdem ist das Schluchzen einer Mutter für mich eng mit der Melodie von Stille Nacht verknüpft.

„Als Kind ahnte ich noch nicht, dass ich eines Tages flüsternd dieses Lied singen würde, während mein eigener Sohn, zwei Tage vor Weihnachten, in meinen Armen starb.“

Ahnte nicht, dass auch mir das Schicksal diesen Schmerz zufügen würde und mir die dunklen Monate jedes Jahr qualvoll unsere Vergänglichkeit vor Augen halten würden, trostlos untermalt von nackten Astgerippen, kahlen Hecken, der Farblosigkeit der Felder und Wälder, der Stille, dem Stillstand, dem Ausbleiben allen Wachsens, Gedeihens und Blühens.

 

Damals, als kleines Mädchen auf dem Friedhof, eingekeilt zwischen meinem Vater und seiner Mutter, die um Fassung rang, war Trauer etwas abstraktes, etwas, das ich zwar bemerkte, dessen Spuren ich an den Gesichtern meiner Liebsten ablesen konnte, aber in seinen weitreichenden Dimensionen nicht begriff. Damals roch Trauer nach Weihrauch, den der Pfarrer beim Abschreiten der Wege schwenkte, sie roch nach feuchter Luft und welken Blättern auf dem Boden. Ich empfand sie als mystisch und heilig, etwas, zu dem ich keinen Zugang hatte, auch wenn ich mich bemühte, indem ich die Nähe zu meinem Vater suchte. Meine Hände schlüpften zu seinen in die weiten Manteltaschen, wo seine Finger sich zu Fäusten ballten, weil man wohl nur so aushalten konnte, was nicht auszuhalten war. Sobald wir den Friedhof verließen, sah ich die Anspannung von ihm abfallen und die meiner Mutter steigen. Denn auch sie hatte jemanden zu betrauern – ihren Vater, an einem Hirntumor verstorben, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Das Grab teilte er sich mit seiner Tochter, die als Säugling eine Scharlacherkrankung nicht überlebt hatte.

 

Ein weiterer Friedhof, ein weiteres Grab, über das sich bei unserer Ankunft schon die Abenddämmerung gesenkt hatte.

„Kerzen und Feuerschalen warfen flackernde Schatten, monotones Rosenkranzgemurmel wanderte über den Friedhof, untermalte das gespenstische Spiel aus Licht und Dunkelheit.“

Wieder suchte ich die Nähe zu meinem Papa, dessen Hände nun entspannt mitzählten, wie viele Verse wir noch vor uns hatten. Unfassbar erschien mir, dass im Grab vor uns auch ein Papa lag. Und ein kleines Baby. Unvorstellbar, dass so etwas passieren konnte, das Papas und Babys starben. Niemals hätte ich ahnen können, dass irgendwann das Unvorstellbare meine Realität werden sollte.

 

Damals, als Kind, waren meine größten Probleme die frostigen Zehen und klappernden Zähne. Ich sehnte das Ende des Rosenkranzes herbei. Nicht nur, weil mich die Litanei des Gebetes langweilte, sondern weil uns nach dem letzten Gegrüßet seist du Maria ein bollernder Ölofen und reich gedeckter Tisch in der kleinen, behaglichen Küche meiner Oma erwarteten. Tanten, Onkels und Cousins rutschten dicht an dicht zusammen, Ofen und Sitznachbarn wärmten von außen, Früchtetee und die kräftige Brotzeit von innen. Auch das war Allerheiligen: Gemeinschaft, lebhafte Gespräche, Bauernbrot und selbst eingelegte Gurken, Kabbeleien um das letzte Senfei, hitzige Wangen vom Ofen und Brösel auf dem bestickten Mitteldeckchen.

 

Nun drängt uns der Jahreslauf zuverlässig auf das nächste Allerheiligen zu. Vieles hat sich verändert. Es gibt keine Großeltern mehr, keine herzwärmende Brotzeit, kein Necken kichernder Cousins auf dem Küchensofa. Stattdessen stehe ich nun vor unserem Grab, diesem kleinen Fleckchen Erde, auf dem Kerzen sich mühen, Licht und Zuversicht zu spenden und weißes Heidekraut wächst. Das Grab, dessen Inschrift den Namen meines Sohnes trägt. Ich kenne nun den Schmerz meiner Großmütter um ihre verlorenen Kinder, spüre seine garstigen Stacheln, die mal mehr, mal weniger wüten, stecke mit Haut und Haar in der klebrigen Melancholie, aus der es in der dunklen Jahreszeit kein Entrinnen zu geben scheint.

 

Besonders jetzt, wenn sich das Leben von draußen wieder nach innen verlagert hat, wenn der Rückzug zum Dialog mit jenen Verlusten zwingt, die wir erdulden mussten und denen, die uns irgendwann bevorstehen. Statt des Ölofens wärmt mich nun die Nähe zu den Kindern, die mir geblieben sind, ich schnuppere ihren intensiven Duft im Nacken und lege meine Finger auf ihre kleinen Herzen, dankbar, dass sie schlagen. Sie sind es, die mich jetzt durch diesen Tag tragen. Durch den ganzen langen Herbst und Winter. Bis der Frühling wiederkommt, das Licht, die Leichtigkeit, die Farben, die Zuversicht.

 

Der November zaudert nicht.

„Aber wir stellen uns ihm mit all unserem Mut entgegen. Und all unserer Liebe.“


 

Autorin

Kathrin Waiz

 

Kathrin ist diejenige, die Worte für das Unaussprechliche findet. Und für das Blödsinnige, das intensiv Alberne und das erschreckend Traurige. Mehr über Kathrin Waiz…

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